Gabriel Narutowicz kam nicht zum Studieren in die Schweiz.
Im Frühling 1886 war der 21-jährige junge Mann aus dem Russländischen Reich schwer an Tuberkulose erkrankt und wollte sich in Davos behandeln lassen. Nach wenigen Monaten hatte sich sein Gesundheitszustand aber schon soweit gebessert, dass er sich in Zürich am Polytechnikum als Bauingenieurstudent immatrikulieren konnte. Allerdings erlitt er im zweiten Semester einen Rückfall und musste für kurze Zeit zurück zur Kur nach Davos.
Ausschnitt aus der Studierendenmatrikel von Narutowicz
(Hochschularchiv der ETH Zürich, EZ-REK 1/1/6154)
Wie alle anderen Studierenden war auch Narutowicz verpflichtet, Lehrveranstaltungen in Freifächern zu besuchen. Obwohl er wegen seiner Krankheit vom Militärdienst befreit war, besuchte er diverse Lehrveranstaltungen im Bereich Militärwissenschaft, z.B. Waffenlehre, Militärgeschichte, topographisches Zeichnen und sogar Schiessübungen, die an der ETH angeboten wurden. Sein Diplom als Bauingenieur erhielt er im März 1891, vier Tage nach seinem 26. Geburtstag.
Arbeit als Ingenieur und Rückkehr an die ETH
Narutowicz stieg nach seinem Studium direkt ins Arbeitsleben ein. Er arbeitete als Bauingenieur bei verschiedenen Projekten für Eisenbahnlinien, Strassen und Kanalisationen in der Ostschweiz und Österreich. Narutowiczs war ein ausgesprochener Praktiker und besass einen ausgezeichneten Ruf. Dies führte dazu, dass er vom Polytechnikum angefragt wurde, ob er nicht als Dozent an die Hochschule zurückkehren möchte. Bei seinen Studierenden war er beliebt, gerade seine Praxiserfahrung wurde in den Vorlesungen und praktischen Übungen sehr geschätzt. Obwohl er nie eine Dissertation oder Habilitation verfasst hatte, wurde er 1907 zum ETH-Professor für Wasserbau ernannt.
Porträtbild von Gabriel Narutowicz, Photographisches Institut der ETH Zürich, ca. 1915
(ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Portr_09935-F)
Neben der Professur an der ETH führte Narutowicz sein privates Ingenieurbüro weiter, das auf den Bau von Wasserkraftwerken spezialisiert war. Narutowicz war ein sehr gefragter Mann. Seine Aufträge häuften sich noch mehr, als die Schweiz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit einer Energiekrise konfrontiert war. Deutschland hatte nämlich den Kohleexport in die Schweiz eingestellt, da die Kohle nun für die deutsche Kriegswirtschaft benötigt wurde. Dieser Energiekrise versuchte die Schweizer Landesregierung durch die vermehrte Nutzung von Wasserkraft zu begegnen. Eines der grössten Bauprojekte, an dem Narutowicz beteiligt war, ist das heute noch bestehende Aarekraftwerk Mühleberg, das 1920 eröffnet wurde.
Postkarte vom Bau des Kraftwerkes Mühleberg, 1919
(ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Fel_002450-RE)
Herkunft und Politik
Narutowicz wuchs in einer Familie auf, die dem polnischen Kleinadel angehörte. Sein Geburtsort Telsiai/Telsche gehörte damals zum Russländischen Reich und liegt heute in Litauen. Er besuchte ein deutschsprachiges Gymnasium im heutigen Lettland und begann ein Ingenieurstudium in St. Petersburg, das er jedoch wegen seiner Tuberkuloseerkrankung abbrechen musste. Narutowicz wuchs mehrsprachig auf und lernte als Erwachsener noch zusätzlich Schweizerdeutsch.
Narutowicz engagierte sich während des Ersten Weltkriegs in verschiedenen Wohltätigkeitsaktionen zugunsten von Polen, die in der Schweiz Zuflucht suchten. Zudem trat er als Referent auf und bezog öffentlich Position für die Gründung eines selbständigen Staates Polen. Sein Artikel „Die Stimmung in Polen“ erschien 1917 auf der Titelseite der NZZ. Seine politischen Aktivitäten wurden sicherlich dadurch erleichtert, dass er seit 1895 die Schweizer Staatsbürgerschaft besass.
Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte nicht nur für Europa, sondern auch für Narutowicz persönlich grosse Veränderungen mit sich. Die Staatsleitung des neu gegründeten Staates Polen bemühte sich, Narutowicz für ihre Infrastrukturprojekte im kriegsverheerten Polen zu gewinnen. Narutowiczs Frau erkrankte an Krebs und verstarb 1920 in Zürich. Mit seinem Ingenieurbüro war Narutowicz nach wie vor sehr erfolgreich, doch für seine Lehrverpflichtungen blieb ihm immer weniger Zeit, weshalb er im Frühling 1919 seinen Rücktritt als ETH-Professor erklärte.
Ausschnitt aus dem Rücktrittsschreiben von der ETH-Professur, Zürich 7.5.1919
(Hochschularchiv der ETH Zürich, SR 3:1919, Nr. 501)
Ermordung und Gedenken
Gabriel Narutowicz verliess Zürich und zog 1920 mit seinen Kindern nach Warschau. Dort begann er eine neue Karriere als Minister in wechselnden Regierungen. Seine praktischen Erfahrungen waren ihm als Minister für Öffentliche Bauten sicher sehr nützlich. Nachdem er 1922 für ein halbes Jahr als Aussenminister amtiert hatte, wurde er im Dezember vom Parlament zum polnischen Staatspräsidenten gewählt. Dass Narutowicz mit den Stimmen der Parlamentarier der nationalen Minderheiten gewählt worden war, löste eine nationalistische Hetzkampagne gegen ihn aus. Nur wenige Tage nach seiner Vereidigung im Amt des Staatspräsidenten wurde Narutowicz auf der Eingangstreppe eines Kunstmuseums in Warschau ermordet – von einem nationalistischen Fanatiker, dem Narutowicz nicht polnisch genug war.
An der ETH wurde zehn Jahre nach seiner Ermordung eine Gedenktafel eingeweiht, die 2017 im ETH-Hauptgebäude einen neuen Ehrenplatz erhalten hat.
Gedenktafel für Narutowicz von Hans Gisler, 1932, seit 2017 im ETH-Hauptgebäude
(Kunstinventar der ETH Zürich, Ki_00032-01)
Quellen: Im Hochschularchiv der ETH Zürich findet sich der Nachlass von Gabriel Narutowicz sowie viele weitere Dokumente über seine Tätigkeit an der ETH Zürich. Auf Deutsch hat Marek Andrzejewski 2006 eine Biographie publiziert: „Gabriel Narutowicz. Wasserbauer, Hochschullehrer und Politiker“.