Robert Maillart in Russland 1914-1918

2017 ist viel über die Russische Revolution von 1917 geschrieben worden. Der Sturm auf den Winterpalast in St. Petersburg Ende Oktober 1917 wird gemeinhin als Oktoberrevolution bezeichnet. Ich möchte hier nicht näher auf diesen Gründungsmythos der Sowjetunion oder den anschliessenden Bürgerkrieg eingehen, sondern über einen Schweizer Bauingenieur berichten, der 1918 den Bolschewiken nur mit knapper Not entkam.

Von Pilzdecken und Eisenbeton

Robert Maillart (1872-1940) war ein erfolgreicher Geschäftsmann und ein hervorragender Bauingenieur. 1902 hatte er mit Berufskollegen die Bauunternehmung Maillart & Cie. in Zürich gegründet, die sich auf Eisenbetonbau spezialisierte. Nach ersten Pionierbauwerken in der Schweiz mit der eigens von ihm entwickelten und 1908 patentierten unterzugslosen Pilzdecke, eines Hochbau-Tragesystems, setzte auch bald die Nachfrage im Ausland ein: Maillart & Cie. erstellten in Spanien, Frankreich, Italien und Russland zahlreiche Industriebauten.

Erstes Pilzdeckengebäude Lagerhaus Giesshübel in Zürich, 1910. Ausführung Maillart & Cie. (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1085: 1910-3)

Robert Maillart hatte von 1890 bis 1894 am Polytechnikum Bauingenieurwesen studiert. Ab 1912 lehrte Maillart – trotz starker beruflicher Inanspruchnahme – das Fach Eisenbetonbau an der ETH. Eisenbeton war in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als neuartiger Baustoff entdeckt worden.

Robert Maillart, ca. 1901 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv)

Die neue Heimat

Im Sommer 1914 verbrachte die Familie Maillart die Ferien ausnahmsweise im damals russischen Riga statt in Italien, denn Robert Maillart hatte dort geschäftlich zu tun. Die sommerliche Familienidylle an der Ostseeküste wurde jedoch jäh durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 28. Juli 1914 unterbrochen. Robert und seine Frau Maria beschliessen vorerst, mit den drei Kindern in Russland zu bleiben.

Am 15. September 1914 lässt Maillart dem Präsidenten des Schweizerischen Schulrats, der damaligen Schulleitung der ETH, aus Riga folgende Entschuldigung zukommen:

Seit zwei Monaten befinde ich mich hier in Riga und zwar mit meiner ganzen Familie. An eine Rückreise mit ihr kann ich unter den jetzigen Verhältnissen nicht denken. Ebenso kann ich nicht allein reisen und meine Familie unter ungewissen Verhältnissen hier lassen. Endlich erfordert auch die ernste Geschäftslage meine Anwesenheit in Riga solange als nicht wieder einigermaßen normale Verbindungen hergestellt sein werden. […] Da der Zeitpunkt meiner Rückkehr ganz unbestimmt ist, so frägt es sich ob es sich dann noch lohnen wird die Vorlesung aufzunehmen. […].

Brief von Robert Maillart an den Schulratspräsidenten Robert Gnehm, 15.09.1914 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, SR3: 1914 Nr. 1004)

Schon vor dem Ausbruch des Krieges realisierte Maillart, wie oben erwähnt, Bauprojekte in Russland, denn ausländisches Know-how war im Zarenreich sehr gefragt. 1912 hatte Maillart & Cie. in St. Petersburg ein Kühlhaus erbaut und dort erstmalig in Russland die Methode der Pilzdecke angewandt (Gebäude 2002 abgerissen).

Fabrik in St. Petersburg für die Firma Gerhard & Hey SA. Ausführung Maillart & Cie. Zürich (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1085: 1912-1)

1913 war die Firma mit der Errichtung von zwei fünfstöckigen Fabrik- und Lagergebäuden in Eisenbeton für eine Gummifabrik in Riga beauftragt worden (Gebäude 1930 abgebrannt).

  Gummifabrik Prowodnik in Riga. Baustelle, Ansicht von der roten Düna, 18./31. März 1914. Ausführung Maillart & Cie., Zürich (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1085: 1913/14-1)

Durch die kriegsbedingte Verlängerung seines Aufenthaltes tat sich nun für den Ingenieur die Möglichkeit auf, seine Geschäfts- und Bautätigkeit im Russischen Reich voranzutreiben, – wenn auch unter erschwerten Umständen. Maillart bemühte sich um neue Aufträge, konnte aber vorerst nur einige ältere Projekte verwirklichen. So finden sich einige Brücken in St. Petersburg, die von Maillart & Cie. erstellt wurden.

Brücke in St. Petersburg 1914 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1085: 1914-4)

Der Bau einer elektrischen Trambahn von St. Petersburg nach Oranienbaum, die durch die Besitztümer des Zaren führen sollte, wurde aus Kriegsgründen unterbrochen. Immerhin konnte Maillart & Cie. für diese Tramlinie zwölf kleinere Brücken errichten, die man noch heute auf der unvollendeten Teilstrecke zwischen Strelna und Oranienbaum entdecken kann.

Da die Kriegsfront immer näher an Riga heranreichte, musste die Familie schon bald nach St. Petersburg umziehen. 1915 findet sich eine Zweigniederlassung der Firma Maillart & Cie. in St. Petersburg an der Rojdestvenskaia 5. Die Familie wurde im Landhaus eines Bekannten in der Umgebung untergebracht. Der erste und grösste Verlust während dieses schicksalhaften Russlandaufenthalts war der Tod von Maria Maillart-Ronconi, der Ehefrau Maillarts, die 1916 nach längerer Krankheit verstarb.

Grossauftrag in Charkow

1915 erhielt die Firma Maillart & Cie. einen Grossauftrag. Das Werk der Russischen Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft sollte von Riga ins ukrainische Charkow verlegt werden. Dies musste kriegsbedingt unter enormem Zeitdruck stattfinden. Die Bauarbeiten mit über 1000 Arbeitern begannen im Winter 1915 und waren innerhalb eines Jahres fertiggestellt. Die offizielle Eröffnung des Verwaltungsgebäudes, der enormen Montagehallen, der fünfgeschossigen Fabrikationshalle und einiger anderer Gebäude erfolgte am 1. November 1916. Für diesen Auftrag hatte Robert Maillart ein Büro in Charkow gegründet und fünf Ingenieure aus der Schweiz kommen lassen. Er soll daran 2 Millionen Rubel verdient haben.

Weitere lukrative Zukunftspläne wurden aber zunichte gemacht. 1917 brach die Revolution über das Zarenreich herein. Robert Maillart, der sein ganzes Vermögen in den Kauf eines russischen Graphitbergwerkes investiert hatte, verlor seinen gesamten Besitz, da dieser von den Bolschewisten beschlagnahmt wurde.

Rückkehr

Am 30. Dezember 1918 trat er notgedrungen mit seinen Kindern die Rückreise in die Schweiz an, die drei Monate dauern sollte. Sie reisten von Odessa am Schwarzen Meer über Konstantinopel, Saloniki und Marseille und kamen am 25. März 1919 in Brig an.

 Passierschein mit der Marke des Schweizerischen Konsulates in Odessa, Januar 1919 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1085: 6)

Tief enttäuscht und finanziell ruiniert, musste der Ingenieur in der Schweiz von vorne anfangen. Dank der finanziellen Unterstützung seiner Mutter und Brüder konnte er 1920 in Genf ein neues – nunmehr beratendes und projektierendes Ingenieurbüro aufmachen. 1924 folgen Zweigstellen in Bern und Zürich. Das Bauen mit Stahlbeton hatte sich inzwischen etabliert.

Epilog

Robert Maillart brachte es nach der Rückkehr aus Russland „zu einer einzigartigen Meisterschaft als Konstrukteur“ (Beton-Virtuose, 15). Grösste Bedeutung erlangte er durch seine Brückenkonstruktionen. 1937 verlieh ihm das Royal Institute of British Architects die Ehrenmitgliedschaft. Er war der erste Bauingenieur überhaupt, dem diese Ehre zu Teil wurde. Eine Zusammenstellung seiner zahlreichen Werke finden Sie hier.

Stellvertretend soll nur sein bekanntestes Bauwerk genannt werden: die Salginatobelbrücke bei Schiers (1929/30) im Kanton Graubünden mit einer Spannweite von 90m. Sie wurde von der American Society of Civil Engineers (ASCE) 1991 zum World Monument erhoben.

Salginatobelbrücke (ETH-Bibliothek, Bildarchiv, Hs 1085: 1929/30-1)

 

Literatur:

Robert Maillart: Beton-Virtuose. Katalog zur Ausstellung des Instituts für Baustatik und Konstruktion der ETH Zürich, 1996.

Kirikova, Olga: Robert Maillart in St. Peterburg. In: Werk, Bauen + Wohnen, 92 (2005), Heft 4.

David P. Billington: Robert Maillart und die Kunst des Stahlbetonbaus/and the Art of Reinforced Concrete. Zürich und München 1990.

Billington, David P., “Maillart, Robert” in: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 707 f.

4 Gedanken zu „Robert Maillart in Russland 1914-1918“

  1. Liebe Frau Bussmann
    Herzliche Gratulation zu Ihrem spannenden Blogbeitrag. Die Lektüre hat mir sehr viel Freude bereitet, da ich relativ wenig über die Russland-Zeit von Robert Maillart wusste. Das Bild „Brücke in St. Petersburg 1914 (ETH-Bibliothek, Hochschularchiv, Hs 1085: 1914-4)“ freute mich besonders, da ich bisher den Eindruck hatte, er hätte in Russland „nur“ Industriebauwerke erstellen dürfen. Der Brief aus den Akten des Schweizerischen Schulrates ist sensationell. Gemäss ETH Vorlesungsverzeichnis gab er während der ersten Phase seiner Russlandzeit noch Vorlesungen. Ich dachte mir immer, dass konnte nicht sein. Der Brief ist der Beweis.

    Mit freundlichen Grüssen
    Urs Meier

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  2. Hochspannender Beitrag. Ich habe noch nie so viele Informationen über Maillarts Zeit in Russland gefunden. Ich habe von 1992 bis 1998 in Russland gelebt und habe versucht, Maillart-Gebäude zu finden. Damals glaubte ich allerdings, es gäbe nur jenes Sanatorium in Gatchina, von dem wir nicht genau wussten, ob es noch existiert. Wir fanden in einem Adressbuch von 1917 sein Büro an der 5. Sowjetskaya (heute). In Strelna waren wir öfters unterwegs und unter der abgebildeten Brücke am Krestovski Ostrov in Petersburg bin ich sogar öfters hindurchgepaddelt, ohne zu wissen, dass es eine Maillart-Brücke ist.
    Herzliche Grüsse
    Andreas Schwander

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  3. Liebe Frau Bussmann,

    haben Sie vielen Dank für Ihren wunderbaren Beitrag zum Thema Robert Maillart in Russland.1914-1918.
    Leider wissen wir wenig über die Etablierung der Stahlbetonbauweise im zaristischen Rußland.
    Vladimir Korensky von der BTU Cottbus-Senftenberg forscht zu diesem Gegenstand – hier seine letzte Veröffentlichung:

    Contribution of Europeans to the Further Development of Reinforced Concrete in the Russian Tsarist Empire
    Autor(en)
    Korensky, Vladimir
    Herausgeber
    Campbell, James
    Publikationsart
    Konferenzveröffentlichung referiert
    Erscheinungsjahr
    2023
    Verlag
    Cambridge : Construction History Society
    Quelle
    Studies in Construction History : the Proceedings of the Tenth Annual Conference of the Construction History Society : Queen’s College, University of Cambridge, 12-13 April 2023, S. 411 – 421
    ISBN
    978-0-9928751-9-0

    Herzliche Grüße
    Karl-Eugen Kurrer

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